"Nahrungsverweigerung" bei chronisch komplex Kranken
Eine Information für Angehörige, Pflegekräfte, Betreuer und Bezugspersonen
In der Endphase schwerer Erkrankungen kommt es häufig zu dem Problem, dass der alte Mensch die Nahrung verweigert. Die Angehörigen und auch häufig das Pflegepersonal sagen sich in einer solchen Situation: Ich kann doch meine(n) Angehörige(n) nicht verhungern und verdursten lassen. Aber leidet der Patient Hunger, leidet er Durst, obwohl er die Nahrung und Flüssigkeit verweigert? Handelt es sich überhaupt um eine "Verweigerung", wenn die Bedürfnisse erloschen sind? Darf man eine Nahrungsverweigerung als Willensäußerung verstehen? Ist es vielleicht die letzte unauspesprochene Willensäußerung eines Menchen? Oder sollte man sicherheitshalber im Zweifelsfall mit Hilfe einer einfachen Magenspiegelung einen künstlichen Zugang von außen zum Magen anlegen lassen, eine sogenannte "perkutane endoskopische Gastrostomie" (abgekürzt PEG), um hierüber den Kranken mit ausreichender Nahrung und Flüssigkeit versorgen.
Die Anlage einer PEG ist ein medizinischer Eingriff. Er darf nur durchgeführt werden, wenn er aus ärztlicher Sicht medizinisch begründet ist und zu einer spürbaren Verbesserung der Lebensqualiät des Patienten führt. Lässt sich keine spürbare Verbesserung der Lebensqualität für den Patienten erreichen, stellt die Anlage einer PEG eine strafbare Körperverletzung dar. Unabdingbare Vorraussetzung zur Anlage einer PEG ist das Einverständnis des Patienten. Ist der Patient nicht in der Lage sein Einverständnis zu erklären, muss sein Vorsorgebevollmächtiger oder sein Betreuer gemäß dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten das Einverständnis abwägen.
Ohne den Willen des Patienten zu beachten scheint es, dass Flüssigkeitsgaben und Nahrungszufuhr für die Bezugspersonen manchmal als symbolischer Akt der Fürsorge verstanden wird. Dies dient oft der Konfliktbewältigung im Ertragen der eigenen Hilflosigkeit in Anbetracht des unausweichlichen Verlustes eines Angehörigen. Auch Angst vor dem Vorwurf der Vernachlässigung anvertrauter Personen ist oft ein Grund für fehlgerichteten Handlungsdrang. Der Tatendrang ist meist "gut gemeint", aber nützt er dem Patienten selbst wirklich?
Zielführender für alle Beteiligten ist es zum Wohl des Patienten folgende Fragen zu stellen und zu beantworten:
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Welche Ursache liegt dem Ernährungsproblem zu Grunde? (Medikamentennebenwirkung, Mundpilz, Zahnprobleme, Schluckstörung usw.)
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Kann die Ursache behoben werden? (Logopädie, Änderung der Medikation, Zahnarzt, Soortherapie, usw.)
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Kann man auf alternative Weise angemessen die Ernährung unterstützen? (angemessene Unterstützung beim Essen, hochkalorische Kost)
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Lässt sich subjektiv für den Patienten eine spürbare Verbesserung der Lebensqualität durch eine PEG-Anlage erzielen?
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Fügt eine PEG Anlage dem Patienten mehr Schaden oder mehr Nutzen zu?
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Ist eine palliative ärztliche und pflegerische Versorgung eine sinnvollere Maßnahme? Palliative Versorgung bedeutet nicht Unterlassung, sondern Intensivierung der ärztlichen und pflegerischen Betreuung mit dem Ziel, das Leiden des Patienten zu lindern und nicht zu verlängern.
Schon Hippokrates soll vor ca. 2.400 Jahren geschrieben haben: "Denn der Arzt muss dafür sorgen, dass das Heilbare nicht unheilbar werde, er muss wissen, wie man die Entwicklung zur Unheilbarkeit verhindern kann. Im Unheilbaren aber muss er sich auskennen, damit er nicht nutzlos quäle."
Insbesondere in der hausärztlichen Betreuung wird oft die Frage gestellt, ob Zurückhaltung mit Kalorien und Flüssigkeit in der Endphase unheilbarer Erkrankungen nicht angemessener erscheint als eine medizinische Therapieflut. Ärztliches Verhalten sollte in höchstmöglicher Weise die Individualität und den Willen des Patienten berücksichtigen und die Therapieziele gemeinsam mit den Angehörigen definieren.
Deshalb lautet die wichtigste Frage: Wem nützt welche Maßnahme?
Viele Maßnahmen, die in der ärztlichen Begleitung von Patienten während der Endphase unheilbarer Erkrankungen üblich sind, helfen eigentlich nicht dem alten kranken Menschen, sondern dienen
- der Beruhigung der Angehörigen,
- der Beruhigung der Ärzte und des Pflegepersonals und
- der gemeinsamen Vorstellung, es werde zumindest "noch was getan".
Die Angehörigen, das Pflegepersonal und der Hausarzt stehen in solchen Situationen oft vor der Wahl zwischen natürlicher Kost, Sondenernährung durch die Bauchdecke (PEG-Sonde) oder Infusionsbehandlung. Es stellt sich die Frage, ob die meisten Patienten in der Endphase einer unheilbaren Erkrankung verhungern. Die daraus abzuleitende Schlussfolgerung, alle Patienten künstlich zu ernähren, erscheint unangemessen. Dies muss immer eine Einzelfallentscheidung bleiben.
Die PEG-Sonde ist in der Fachwelt nicht unumstritten! Es sind in den letzten Jahren viele Veröffentlichungen erschienen, die auf die Nachteile der PEG aufmerksam machen. Eine Dekubitus kann so z.B. nicht verhindert werden. Auch schützt eine PEG leider nicht bei Schluckstörungen vor einer Aspirationspneumonie. Im Gegenteil: Durch den Rücklauf von Sondenkost treten gehäuft Aspirationspeumonien auf.
Muss denn eine Sonde gelegt werden? Darf man einer Erkrankung ihren natürlichen Lauf lassen?
Selbstverständlich ist das nicht verboten, wenn es dem Willen des Patienten entspricht. Man muss auch nicht tatenlos zusehen, denn das subjektive Gefühl von Durst ist weniger mit dem Ausmaß der Austrocknung als vielmehr durch die Mundtrockenheit verursacht. Deshalb ist eine konsequente Mundpflege wichtiger als Flüssigkeitszufuhr. Mundpflege bedeutet Zuwendung für den Kranken mittels
- Lippenpflege,
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Reinigung der Mundhöhle, 2-stündliches Mundspülen oder Auswischen des Mundes mit Hagebuttentee oder (Mineral-)Wasser,
- Einsatz von kleinen Eislutschern am Stiel,
- gefrorene Früchte (z. B. Ananas),
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gefrorene Getränke (z. B. Orangensaft, Apfelsaft, Cola, Bier, Sekt) je nach Vorlieben,
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Sprühen von Flüssigkeiten (z. B. Zitronenwasser) mit Hilfe eines Zerstäubers auf die Zunge,
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Sahne auf die Zunge legen und mit Mundtupfern vorsichtig abreiben,
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eine kleine Ecke Vitamin-Brausetablette auf die Zunge legen usw.
Der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt.
Unter Austrocknung "leidet" der Kranke in der Regel nicht. Sie hat für ihn in der Endphase einer unheilbaren Erkrankung eher natürliche Vorteile, die man dem Kranken nicht unbedingt vorenthalten sollte:
Die Schläfrigkeit durch Entwässerung kann sinnvoll sein, weil sie als natürliches Schlaf- und Schmerzmittel wirkt und Leiden und Luftnot lindert.
Wie sehen die rechtlichen Aspekte aus?
Die Bundesärztekammer nimmt in ihren aktuellen Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung auch zu dieser Problematik Stellung. Hier heißt es:
"...Bei Patienten, die sich zwar noch nicht im Sterben befinden, aber nach ärztlicher Erkenntnis aller Voraussicht nach in absehbarer Zeit sterben werden, weil die Krankheit weit fortgeschritten ist, kann eine Änderung des Behandlungsziels indiziert sein, wenn lebenserhaltende Maßnahmen Leiden nur verlängern würden und die Änderung des Therapieziels dem Willen des Patienten entspricht. An die Stelle von Lebensverlängerung tritt dann palliativ-medizinische Versorgung einschließlich pflegerischer Maßnahmen (Palliativ heißt, nicht mehr das "Heilen", sondern das "Lindern der Leiden" steht im Vordergrund der Behandlung). In Zweifelsfällen sollte eine Beratung mit anderen Ärzten und Pflegenden erfolgen.
... Es ist die Aufgabe des Arztes, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen sowie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Verpflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen.
... Unabhängig von den Therapiezielen hat der Arzt in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen, d.h. unter anderem: menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Überlkeit sowie das Stillen von Hunger und Durst. ... Ein offensichtlicher Sterbevorgang soll nicht durch lebenserhaltende Therapien künstlich in die Länge gezogen werden. Bei seiner Entscheidung soll der Arzt mit ärztlichen und pflegenden Mitarbeitern eine Übereinstimmung erzielen. ... Zu den ärztlichen Pflichten bei Sterbenden gehört nicht immer Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr, da sie für den Sterbenden eine schwere Belastung darstellen können. Jedoch müssen Hunger und Durst als subjektive Empfindung gestillt werden. ... Bei Sterbenden kann die Linderung des Leidens so im Vordergrund stehen, dass eine möglicherweise dadurch bedingte unvermeidbare Lebensverkürzung hingenommen werden darf."
Die Empfehlung der Ärztekammer Berlin zum Umgang mit künstlicher Ernährung besagt u.a.:
"Das Thema Einleitung und Abbruch künstlicher Ernährung gewinnt zunehmend an Bedeutung, dies gilt insbesondere beim willensunfähigen Patienten. Künstliche Ernährung wird hierbei als jede Form der Ernährung verstanden, bei der keine Aufnahme der Nahrung über den Mund erfolgt. Sie erfordert die Einwilligung des Patienten bzw. seines Bevollmächtigten oder Betreuers."
Wie ermittelt man den Patientenwillen?
Der Wille des Patienten hat Vorrang, wenn er durch Wort oder nur durch Mimik oder Gestik geäußert wird. Liegt eine Patientenverfügung vor, die auf die aktuelle Situation zutrifft, so ist der darin geäußerte Wille verbindlich. Besteht ein offensichtliches Missverhältnis zwischen der Nahrungsverweigerung und der gesundheitlichen Situation des Patienten, so sollte unter Beteiligung eines Psychiaters geklärt werden, ob die Nahrungsverweigerung Teil eines psychiatrischen Krankheitsbildes ist.
Aber was will denn der "willensUNfähige" Patient?
Schwierig ist die Entscheidung für oder gegen eine künstliche Ernährung beim willensunfähigen Patienten mit unheilbarer Krankheitsaussicht, wenn keine Willensbekundung aus früherer Zeit vorliegt. Der Arzt muss dann den mutmaßlichen Willen erkunden und dazu mit Angehörigen, Betreuern, Bevollmächtigten, Pflegepersonen und anderen Bezugspersonen Kontakt aufnehmen. Für den schwierigsten Fall formulieren die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebegleitung vom 11.09.1998 folgendermaßen: "Lässt sich der mutmaßliche Wille des Patienten nicht anhand der genannten Kriterien ermitteln, so handelt der Arzt im Interesse des Patienten, wenn er die ärztlich indizierten Maßnahmen trifft."
Obwohl es sich stets um Einzelfallentscheidungen handelt, sind nachstehende Regeln vor der Einleitung von künstlicher Ernährung beim willensunfähigen Patienten von allgemeiner Bedeutung:
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Die Einleitung erfordert eine sorgfältige Prüfunfg nicht zuletzt wegen der Problematik eines späteren Abbruchs.
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Die Einleitung ist angezeigt, bei erkennbarem Bedürfnis nach Nahrung und Flüssigkeit, wenn aber eine orale Verabreichung nicht möglich ist.
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Sie ist auch bei nicht erkennbarem Hunger (z.B. Bewusstlosigkeit) angezeigt, wenn es lediglich vorübergehend unmöglich ist, Nahrung und Flüssigkeit auf natürlichem Weg zuzuführen. Bei anhaltender Bewusstlosigkeit ist der mutmaßliche Wille des Patienten entscheidend.
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In terminalen Stadien (Endphasen) ist künstliche Ernährung in der Regel nicht angezeigt, weil in den meisten Fällen das Bedürfnis nach Nahrung erlischt.
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Sie sollte unterbleiben, wenn sie nur unter körperlichem Zwang (Fixierung durch Handfesseln) erfolgen kann, es sei denn, es handelt sich um die Überbrückung einer zeitlich begrenzten Unmöglichkeit, Nahrung auf natürlichem Weg zuzuführen.
- Sie ist unter ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar, wenn sie nur der Pflegeerleichterung (Zeit und Personal zum Darreichen der Nahrung entfällt) dient.
Die oft zu hörende Annahme, dass der Verzicht auf künstliche Ernährung ein "qualvolles Verhungern" zur Folge hat, ist wissenschaftlich nicht belegt. Belastend ist das Wechseln zwischen Ernährung und Nahrungsentzug. Die Sondenernährung von Patienten in der Endphase ihrer Erkrankungen beruht häufig auf der Annahme, dass dadurch das körperliche und emotionale Wohlbefinden des Patienten erhalten, gesteigert und dadurch die Lebenserwartung erhöht werden kann. Diese Theorie wurde in der Zwischenzeit mit zahlreichen Studien widerlegt.
In Endstadien von Erkrankungen ist in der Regel auch ein Verzicht auf die Zufuhr von Flüssigkeit angezeigt, weil sie zusätzliche Komplikationen (z.B. einem Lungenödem) Vorschub leisten kann. Unverzichtbar und für das Befinden der Patienten hilfreicher dahingegen ist eine sorgfältige Mundpflege, die bis zum Tode fortzuführen ist.
Zur Verbesserung des Ernährungszustandes bei Demenz ist
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in frühen und mittleren Stadien der Erkrankung eine orale Nahrungszufuhr angezeigt. Dazu existieren bekannte Expertenstandards, die der Würde der Demenz-Patienten Rechnung tragen, dem Wesen der Erkrankung gerecht werden und eine ausgewogene Ernährung sichern.
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Bei fortgeschrittener Demenz bleibt die Sondenernährung eine Einzelfallentscheidung, die sich nach o.g. Kriterien ausrichtet.
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Bei final dementen Patienten (Endstadium der Erkrankung) wird sie nicht empfohlen.
Sicherlich haben Sie zu diesem Problemkreis noch einige offene Fragen. Diese sollten wir dringend miteinander besprechen, um zu einer Klärung des weiteren Vorgehens zum Wohl und im Sinne des betroffenen Patienten zu kommen. Bitte vereinbaren Sie einen Gesprächstermin.
Quellen:
- Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung 2004
- Neurologie & Psychiatrie, 2005, Vol. 7, Nr. 5, S. 7ff.
- Baier et. al.: Das Geriatrie Kompendium, MDM Medi Consult, Stuttgart
- Empfehlung der Ärztekammer Berlin zum Umgang mit künstlicher Ernährung
- MMW - Fortschr. Med. Nr. 40 / 2005 (147. Jg.), S. 8ff.
- Künzel: Palliativmedizin Manual, Deutscher Hausärzteverband, Emsdetten, 2004
- Kern, Martina: Pflegestandards & Richtlinien Palliativpflege, Pallia Med Verlag, Bonn
- Becker, Ursula: PEG: ja oder nein? Der Allgemeinarzt 20/2012, S. 42 ff.
- de Ridder, Michael: Medizin am Lebensende: Sonderernährung steigert nur selten die Lebensqualität, Deutsches Ärzteblatt 2008; 105(9):A 449-51
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Synofzik, Matthis: PEG Ernährung bei fortgschrittener Demenz: eine evidenzgestütze ethische Analyse. Nervenarzt 78:418-428 aus 2007